Ihr Leben lang hat Édith Piaf die blanke Wahrheit nie gescheut. Wer selbst nie in Watte gepackt wurde, neigt nicht zur Verklärung. Insofern nähert Marie Giroux sich in ihrem neuen Programm „Madame Piaf“ der Diva, wie die selbst es wohl ähnlich getan hätte: schonungslos und unprätentiös – nur mit wesentlich mehr Charme und Humor, als die Piaf selbst zu versprühen verstand.
Und es braucht kaum mehr als Giroux‘ Anmoderation, um zu erahnen, dass hier eine französische Chansonsängerin in das Leben einer anderen, noch viel berühmteren Chansonsängerin auf durchaus überraschendere Weise eintaucht, um die andere, unbekanntere Seite der Piaf zu präsentieren. „Ich habe Hängebrüste und einen kleinen, flachen Hintern“, zitiert die Giroux gleich zu Beginn die Piaf, „aber ich kriege die Männer trotzdem.“
Im konservativ-schwarzen Kostüm lehnt sie lässig am Flügel. Sie zwinkert bei dem Satz mit dem linken Auge. Ihr ganzes Gesicht inmitten der langen wilden blonden Locken lächelt. Sie ist deutlich größer als Édith Piaf mit ihren 1,47 Meter es einst war. Und auch dass Giroux, eigentlich Mezzosopranistin, mit dem Satz nicht sich selbst beschreibt, erkennt man bestens auf den allerersten Blick. Die Abende, die eine Hommage an die große Édith Piaf versprechen, spielen sich für gewöhnlich im vorhersehbaren Bereich ab – ein Reigen oft trauriger Lieder, irgendwo zwischen dem Leben in Rosarot und dem Nichtsbedauern. Die Abende nähern sich dem berühmten Original mal mehr, mal weniger an. Läuft es optimal, fehlt dem Publikum fast nur dieses typische Knistern alter Schellack-Schätzchen, das das Original vom Plagiat unterscheidet. Fast.
Viele Künstlerinnen versuchen sich am reichen Repertoire der großen Piaf, die in ihrem Leben über 3000 Lieder eingesungen hatte, als sie im Oktober 1963 starb. Gerade in diesem Jahr, in dem die wohl großartigste Chansonsängerin aller Zeiten ihren 100. Geburtstag gefeiert hätte, erfreuen sich Piaf-Programme großer Popularität. Doch während die meisten nur La vie en rose, Milord und Non, je ne regrette rien routiniert aneinanderreihen, reicht Marie Giroux mit der Pianistin Jenny Schäuffelen und der Cellistin Frédérique Labbow ihrem Publikum die Hand zu einem außergewöhnlichen Exkurs durch das Leben der berühmten und berüchtigten, gefeierten und gefürchteten Piaf.
Es geht nicht darum, wie Piaf von ihrer leiblichen Mutter kurz nach der Geburt verlassen, von ihrer einen Großmutter vernachlässigt und von der anderen im Bordell aufgezogen wurde. Es geht nicht um ihren zu Gewaltexzessen neigenden, dem Alkoholismus verfallenen Vater, den frühen Tod ihrer einzigen Tochter oder die Ermordung ihres Mentors. Mit der Unterstützung von Labbow diskutieren Giroux und Schäuffelen mit Wortwitz und Schlagfertigkeit nicht minder authentische Außensichten des von Tragödien durchzogenen Leben Piafs: Sie widmen sich den zahlreichen Liebschaften und deren Nutzen für die große kleine Piaf. Es geht ums Trotzdemkriegen.
Das klingt wie eine gefährliche Gratwanderung. Mitreißende Bühnenunterhaltung darf schließlich mit Fug und Recht als große Kunst gelten. Geht es doch darum, Widersprüchen erfolgreich in Einklang zu bringen: Ein Künstler muss den inhaltlichen Erwartungen des Publikums entsprechen, allenfalls darf er sie übertreffen, gleichzeitig muss er es aber überraschen. Das gelingt dem Trio Giroux, Schäuffelen und Labbow, die auch an der Seite von Tim Bendzko und Andreas Bourani tourt, unnachahmlich. Die drei Musik-Hochschulabsolventinnen beweisen bei „Madame Piaf“ ihre imponierende Vielseitigkeit, sowohl durch einfühlsame und erfrischende Eigenarrangements der Chansons mit überraschenden Instrumentenwechseln als auch in der Originalität, mit der sie sich der Männer und Frauen annehmen, die den Lebensweg der Piaf säumten.
Mal waren die selbst schon berühmt, Boxer oder Radsportler oder Marlene Dietrich, mal wurden sie es im Kielwasser der kleinen charismatischen Sängerin. Und so überrascht Giroux ihr Publikum bei der „Enttarnung einer Diva“ mit den großen Männern des Chansons, von Charles Aznavour, Piafs früherem Privatsekretär, über Gilbert Bécaud, Yves Montand, Georges Moustaki, der für Piaf Milord textete, bis zu Jacques Pills und Johnny Hallyday, dem französischen Soft-Rocker, dem nicht einmal half, dass er eigentlich noch unter den Welpenschutz fiel, als er der Piaf begegnete.
Das neue Piaf-Programm zeigt, wie die Giroux die Piaf intensiv über ein halbes Jahr lang studiert hat, um ohne unnötige Prüderie, aber mit Expertise eine amüsante Abend-Unterhaltung zusammenzustellen, die nicht allein musikalisch mitreißend ist.
Weggefegt meine Liebschaften und all ihr Gejammer, weggefegt für immer“, hat die Piaf in ihrem berühmtesten Chanson gesungen, „ich beginne bei Null, denn mein Leben, mein Glück beginnen heute mit dir.“